Aus der Hohen Tatra ins Isartal – Nachruf auf Ernst Walko (1927 – 2021)
Er war ein Heimatvertriebener, den das Schicksal seiner ehemaligen jüdischen Mitschüler nicht mehr losließ: Jahrelang versuchte Ernst Walko herauszufinden, was mit seinen einstigen Freunden vom deutschen Gymnasium in Käsmark (heute Kežmarok / Ostslowakei) geschah, nachdem sie 1942 mit zahlreichen anderen Familien im Ort zusammengetrieben und abtransportiert worden waren. „Umsiedlung“ nannte man das damals. Tatsächlich wurden die rund 1470 Juden, wie er später durch Recherchen in internationalen Archiven erfuhr, in Viehwaggons nach Auschwitz, Treblinka oder Sobibor verschleppt. Auch Walkos Mitschüler standen auf den Deportationslisten. Keiner überlebte.
Am 26. Dezember 2021 ist Ernst Walko mit 94 Jahren gestorben. Ein paar Monate zuvor hat er noch dem Erinnerungsort BADEHAUS in einem gefilmten Zeitzeugengespräch von seiner Geschichte erzählt. Es war ein langes, ereignisreiches Leben voll glücklicher Wendungen, auf das der frühere Geretsrieder Zahnarzt mit großer Dankbarkeit zurückblickte.
Ernst wurde am 27. Juni 1927 in Käsmark geboren, in der sogenannten Zips. Dort lebten deutsche Siedler, die vor allem nach dem Mongoleneinfall 1242 von den ungarischen Königen ins Land geholt worden waren. Seine Vorfahren sind also keine „Reichsdeutschen“ gewesen, sondern waren seit Jahrhunderten in diesem Gebiet am Fuße der Hohen Tatra als Deutschstämmige ansässig, zuletzt als slowakische Staatsbürger. In jener Region gab es außerdem viele Juden, allein in Käsmark bis 1940 ein Viertel der Bevölkerung , die vor allem im Handel tätig waren. Als Kaufmann arbeitete auch der Vater von Ernst Walko, doch die Familie war evangelisch.
In seiner Heimat wuchs der junge Ernst dreisprachig mit Deutsch, Slowakisch und Ungarisch auf. Das Zusammenleben der unterschiedlichen Volksgruppen bezeichnet er im Rückblick als „vorbildlich“, bis eine Welle des Nationalismus die Menschen gegeneinander aufgebracht habe, und die Slowaken schließlich 1939 einen eigenen Staat errichteten.
Als gegen Kriegsende die russische Armee näher rückte, wurden die sogenannten Karpatendeutschen zwangsevakuiert. Ernst kam mit seinen Klassenkameraden vom deutschen Gymnasium zunächst nach Niederösterreich und wurde von dort nach Preßburg (heute Bratislava / Slowakei) zu einem Lehrgang für Kriegsabiturienten einberufen. Nachdem er das Abitur im Schnellverfahren abgelegt hatte, wurde er mit seinen Klassenkameraden zu einer Art bewaffnetem Heimatschutz abkommandiert: „Wir hatten da schlesische Flüchtlingsfamilien auf ihren Wegen zu bewachen. Das war eines meiner traurigsten Erlebnisse. Wenn ich daran denke, diese jungen Frauen, die wurden von den Russen dann abgeholt und wir konnten tatenlos zusehen, wie sie nach ein paar Stunden zurückkamen und niedergeschlagen waren. Man wusste, was mit ihnen passiert war.“
Ernst geriet mit 18 Jahren in russische Gefangenschaft und wurde in ein Sammellager nach Südmähren gebracht. Aufgrund seiner slowakischen und tschechischen Sprachkenntnisse gelang es ihm jedoch, dem Abtransport nach Russland zu entgehen und zur Zwangsarbeit auf einem tschechischen Bauernhof eingeteilt zu werden. Nach seinem Ernteeinsatz bekam er mit viel Glück einen Entlassungsschein ins Egerland, wohin seine Eltern inzwischen zwangsevakuiert worden waren. „Das war ein Entlassungsschein in das Leben“, betont er immer wieder mit großer Dankbarkeit für den tschechischen Landrat, der dieses Dokument damals wohl aus Mitleid mit dem jungen Abiturienten ausgestellt hatte: „Es gab überall Menschen, die auch noch Menschen waren.“
Ende August 1945 fand Ernst seine Eltern in Neukindsberg (heute Cheb / Tschechien) im tschechisch-bayerischen Grenzgebiet wieder. Sie waren im Januar 1945 aus der Zips in den „Sudetengau“ evakuiert worden; ihr Fluchtgepäck verbrannte jedoch im Egener Bahnhof, als dieser gegen Kriegsende von den Amerikanern bombardiert wurde. Ernst wollte damals seine Eltern in den Westen mitnehmen, doch sie waren so stark traumatisiert, dass sie nicht mehr weiterziehen konnten. Der Sohn machte sich schließlich mit zwei anderen Zipser Familien alleine auf den Weg in die amerikanisch besetzte Zone. Ihr Ziel waren die Munitionsfabriken im Wolfratshauser Forst. Dort hatten während des Krieges rund 700 Rüstungsarbeiter aus der Slowakei gearbeitet, und zu einigen Landsleuten hatten die beiden mit ihm flüchtenden Familien eine Verbindung.
Am 17. November erreichte die Zipser Gruppe das Isartal, wo sie in Gelting bei einem slowakischen Bekannten vorübergehend unterkam. Zwei Tage später versuchte Ernst Walko vergeblich, beim Wolfratshauser Bürgermeister eine Zuzugsgenehmigung zu erhalten. Es seien schon so viele Flüchtlinge in der Loisachstadt, er könne leider niemanden mehr aufnehmen, erklärte ihm damals Johann Winibald. Beim Geltinger Bürgermeister Lorenz Graf hatte er dann mehr Glück: „Der Mann war eine Seele von Mensch, das habe ich schon hundert Mal gesagt. Der hat mich alles gefragt, der hatte zwei Söhne, die in Kriegsgefangenschaft waren. Ich stand jetzt hier als Bettler mit 18 Jahren und ich erzählte ihm, was ich alles erlebt habe. Da hat er gesagt, freilich, dem muss man helfen.“ Bürgermeister Graf besorgte ein Zimmer beim Bauern Hasch und unterschrieb sogar noch eine Zuzugsgenehmigung für die Eltern. „Ich war im siebten Himmel, denn die Leute waren so freundlich“, erinnert sich Ernst Walko mit großer Dankbarkeit an die Geltinger Familie Hasch. Eine Woche später fuhr er unter abenteuerlichen Bedingungen wieder an die Grenze zurück und überredete seine Eltern mitzukommen. Lebenslang war er auch dem Geltinger Bürgermeister Graf zutiefst verbunden: „So einen Menschen zu finden, das war ein unbeschreibliches Glück.“
Sieben Jahre lebten die Walkos in zwei Zimmern auf dem Hof der Familie Hasch, bei der noch fünf weitere Heimatvertriebene einquartiert waren. Sie integrierten sich schnell in das Dorfleben. Der Vater machte sich auf dem Hof nützlich, fand in einer Geretsrieder Spielwarenfirma eine Beschäftigung und schnitzte in Heimarbeit kleine bayerische Häuschen für die Amerikaner. Ernst ging in die Lehre bei einem Wolfratshauser Dentisten am Obermarkt und freundete sich mit der Dorfjugend an. Ab 1949 durfte er als „Flichtling“ sogar beim traditionellen Maitanz mitwirken. Dazu hatte er sich eigens eine Lederhose (siehe Bild) „organisiert“: „So bin ich dann Bayer geworden und war stolz, dass ich dort aufgenommen wurde.“ Mit einigen Freunden gründete er damals auch den Geltinger Motorradclub.
Damals ging Ernst häufig ins jüdische DP-Lager Föhrenwald, das an das Geltinger Gemeindegebiet angrenzte. Dort bekam man in jenen entbehrungsreichen Nachkriegsjahren auf dem Schwarzmarkt fast alles zum Überleben. Die umliegende Bevölkerung nutzte diesen illegalen Tauschhandel, der sonntags am Rand des Lagers stattfand, rege – sehr zum Missfallen von Polizei, Kirche und staatlicher Obrigkeit: „Jeder, der irgendetwas gebraucht hat, hat sich dort mal umgeschaut“, sagt Walko rückblickend mit einem Augenzwinkern. Er zahlte mit dem Familienschmuck, den seine Mutter auf der Flucht im Handgepäck gerettet hatte, und erstand dafür neben Kleidungsstücken auch ein Fahrrad und einen Fotoapparat. Mit diesem besonderen Schatz machte er eine der wenigen Aufnahmen, die es von dem damals sogenannten „Judenmarkt“ heute noch gibt (siehe Bild).
1952 zog die Familie nach Geretsried in eine 2-Zimmer-Wohnung an der Altvaterstraße. Ernst absolvierte seine weitere Ausbildung zum Zahnarzt in München und ließ sich später mit seiner Praxis in Geretsried nieder. Der evangelische Zipser Ernst Walko heiratete 1953 die katholische Sudetendeutsche Elisabeth Lindner, die er kennengelernt hatte, als sie mit ihrer sudetendeutschen Familie gegenüber vom Hasch-Hof bei einem Wachmann der Munitionswerke einquartiert war. Getraut wurden sie in der Geretsrieder evangelischen Notkirche („Bunkerkirche“) von Pfarrer Georg Weber, einem Gegner der Nazis, den Ernst Walko besonders schätzte. Das junge Paar bekam drei Kinder, von denen eines jedoch schon als Kleinkind starb.
1970 wurde Ernst Walko bei der Stadtratswahl vom 29. Listenplatz der F.D.P. ganz nach vorne gehäufelt und zog als einziger Vertreter der Liberalen in das Geretsrieder Stadtparlament ein. „Na ja, ich kam auf die F.D.P.-Liste wie die Jungfrau zum Kind“, sagt Walko, weil er einem befreundeten Patienten als Zählkandidat einen Gefallen tun wollte. In die Verantwortung genommen, engagierte er sich dann zwei Wahlperioden lang für seine neue Heimatstadt. Als seinen größten politischen Erfolg bezeichnet er den Bau einer Unterführung der B11 beim Geretsrieder Rathaus. Damals habe man von der „Walko-Unterführung“ gesprochen, weil er sich besonders für diese Untertunnelung der verkehrsreichen Bundesstraße eingesetzt hatte. Gegen erheblichen Widerstand plädierte er auch für die Errichtung eines Mahnmals zur Erinnerung an den Todesmarsch der Dachauer KZ-Häftlinge. Gemeinsam mit der SPD und den GRÜNEN stimmte er im Stadtrat für die Aufstellung eines Denkmals an der B11, für das der Geretsrieder Geschichtsaktivist Andreas Wagner jahrelang gekämpft hatte.
An Geretsried gefalle ihm besonders die „Vielfalt der Menschen“, sagte Walko, denn dies erinnere ihn an seine ursprüngliche Heimat in der Zips: „Bei uns war eine Vielfalt an Nationalitäten, die sich über Jahrhunderte vertragen haben. Wenn der Hitler und seine blöde Idee nicht auf die Slowaken übergegriffen hätten, dann wären wir heute dort glücklich lebende Menschen.“
Gleichsam in letzter Sekunde konnten wir die Lebensgeschichte von Ernst Walko noch mit der Kamera festhalten. Seine Erinnerungen und seine Fotografien, die er uns überlassen hat, werden wir in unserem Museum in Ehren halten. Und wir sind dankbar, dass er kurz vor seinem Tod noch verfügt hat, statt Blumen und Kränze für sein Grab um Spenden für den Erinnerungsort BADEHAUS zu bitten.
Dr. Sybille Krafft im Januar 2022
Auf den Fotos: Ernst Walko mit Lederhose 1948, „Judenmarkt“ in Föhrenwald 1949 und Ernst Walko auf dem Motorrad 1950. Copyright: Erinnerungsort BADEHAUS/ Familie Walko.
Ernst Walko 2021. Copyright: Justine Bittner.