Weihnachtsgeschichte

Zu Advent und Weihnachten teilen wir diese Geschichte in einem unserer Fenster mit den Passant*innen in Waldram.

Advent im BADEHAUS

 

Weihnachten 1944 im KZ-Außenlager Agfa-Kamerawerke

Die folgende Geschichte stammt aus den Memoiren der niederländischen Zwangsarbeiterin Kiky Gerritsen-Heinsius (1921-1990), die zusammen mit etwa 500 weiteren niederländischen und polnischen Widerstandskämpferinnen in den Agfa-Kamerawerken in München Giesing Zwangsarbeit leisten musste. Diese ‚Agfa-Frauen‘ gelangten auf dem Todesmarsch Ende April 1945 nach Wolfratshausen, wo sie von amerikanischen Streitkräften am 1. Mai auf dem Walserhof befreit wurden. Kurz darauf wurden sie mit als erste ins neu eingerichtete Displaced Persons-Lager Föhrenwald gebracht. Hier konnten sie ihre ersten Tage in Freiheit erleben. Mehr zum Schicksal der Agfa-Frauen können Sie bei einem Besuch im Erinnerungsort BADEHAUS erfahren.

Als das Weihnachtsfest näher rückte, dachten wir noch öfter als sonst an die Familien daheim und fragten uns, wie es um sie stand. Waren sie schon befreit oder wurde in Holland noch gekämpft? Welche Vorstellung sollten sie sich von unserem Zustand machen, nachdem sie seit Anfang September nichts mehr von uns gehört hatten und sicherlich auch nicht wussten, wohin man uns gebracht hatte? Lebten sie überhaupt noch?

Trotzdem sollte das Weihnachtsfest hier in München nicht spurlos vorübergehen. Der Kommandant war offensichtlich fest entschlossen, daraus ein Fest zu machen. Aber bevor es soweit war, hatte er noch eine unangenehme Überraschung zu verarbeiten. Es war ihm gelungen, sich einer großen Wurst zu bemächtigen, die er seiner Frau zu Weihnachten schenken wollte. Diese Wurst wurde gestohlen und der Kommandant war äußerst wütend. Alle Wohnungen wurden durchsucht, aber die Wurst wurde nicht gefunden. Daraufhin wurde wieder einmal zu einem altbewährten Mittel gegriffen: Strafappell, bis die Wurst gefunden war.

Und da standen wir dann wieder, im Schnee, vor Kälte auf- und niederstampfend und händereibend, diesmal wegen einer Wurst, die wir nicht gesehen, geschweige denn probiert hatten.

Stunden später sah er schließlich ein, dass dies zu nichts führen würde, da diejenige, die die Wurst gestohlen hatte, sie natürlich sofort aufgegessen hatte. Als seine Wut halbwegs abgekühlt war, begann er mit seinen Vorbereitungen für das Weihnachtsfest. Er ließ einen Baum aus dem Wald holen und dieser stand am Abend vor Weihnachten, verziert mit allerlei silbernen Sternen und ein paar Kerzen, mitten im Speisesaal.

Es wurden Kuchen gebacken, das hatten wir gerochen und laut den Frauen in der Küche sollten wir ein Würstchen und Kaffee mit Milch und Zucker bekommen.

Nicht jeder war von dem Gedanken eingenommen, gemeinsam mit dem Kommandanten das Weihnachtsfest zu feiern. In unserer „Familie“ wurde gründlich über die Frage diskutiert, ob wir nicht besser – diese Ehre ablehnen sollten. Aber wir kamen zu keinem Beschluss.

Darum lief ich herum und erkundigte mich bei den „Nachbarn“ an der anderen Seite des Treppeneingangs. Auch da waren die Meinungen geteilt und ich hörte, dass in der einen oder anderen Wohnung beileibe nicht jede begeistern von diesem deutschen Fest war.

Es wurde kein Beschluss gefasst. Aber am Abend selbst, nachdem zuerst die Polinnen im Speisesaal ihre Weihnachtslieder gesungen hatten, zogen die Leckereien, die dort bereitstanden, uns so unwiderstehlich an, dass wir uns, wenn auch etwas ungelenk, schließlich an die etwas gemütlicher aufgestellten Tische heranschoben.

Der Kommandant, der seine Rolle als Gastgeber sichtbar genoss, saß friedlich umherblickend in der Mitte des Saales neben dem Weihnachtsbaum: die Kerzen brannten. Langsam verschwand unser Widerwille und wir fingen an, es eigentlich sehr gemütlich zu finden. Zögernd setzten einige Frauen zu „Stille Nacht, heilige Nacht“ an und danach sangen wir von den „Hirten“ und „Oh, Tannenbaum, oh Tannenbaum“.

„Ehre sei Gott“, mit einer nachdrücklichen Betonung auf „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“, hatten wir uns für den Schluss aufgehoben.

Zu unserer großen Überraschung stand der Kommandant auf, nahm seine Mütze ab und sang mit uns mit. Unsere Überraschung wurde noch größer, als er uns nach diesem Lied eine baldige und wohlbehaltene Rückkehr in die Heimat wünschte; er versprach, alle, was ihm möglich war, dazu beizutragen.
Verwirrt sahen wir uns an. Das hatten wir nicht erwartet. Sollte er das wirklich ernst meinen, gerade jetzt, wo die deutschen Armeen eine Gegenoffensive begonnen hatten.

Hoffte er denn nicht auf den Sieg Deutschlands oder glaubte er nicht mehr daran?

Wir waren doch seine Feinde, er wusste doch am besten, warum wir hier gefangen waren.

Wie konnte er so etwas sagen.

Als wir wieder draußen standen, schlug Emmy den schönen Schein mit einem Schlag zu Scherben mit der Bemerkung: „Bah, das ist doch ein echter ‚Mof‘*, zu Weihnachten wird er sentimental.“

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*In den Niederlanden gebräuchliche abwertende Bezeichnung für einen Deutschen. Während des Zweiten Weltkriegs mit der Bezeichnung „Nazi“ gleichzusetzen.