Der Künstler und Bildhauer Michael von Brentano ergänzte unsere Dauerausstellung vorübergehend mit einer künstlerischen Intervention. Zum zweiten Mal wurde der sonst fertige Raum der Ausstellung um eine neue kreative Dimension ergänzt, die zur vertieften und persönlichen Auseinandersetzung einlädt.
„Eigentlich bin ich mein Leben lang auf der Flucht“
„Eigentlich bin ich mein Leben lang auf der Flucht.“ Das sagte die Mutter des Künstlers kurz vor ihrem Tod im Alter von 86 Jahren.
Margit hatte eine unbeschwerte Kindheit. Sie wuchs in einer ländlich-bäuerlichen Umgebung auf, in dem Dorf Oberlindewiese, heute tschechisch Horní Lipová, im Sudetenland. Sie lebte in einem Forsthaus, umgeben von üppig bewaldeten Bergen, blühenden Wiesen und Bächen. Ihre Kindheit war geprägt von einer fürsorglichen
Mutter, die sich um Haus und Hof kümmerte. Es gab zwei Kühe, Hühner und Enten und einen Gemüsegarten zur Selbstversorgung. Der Vater war Forstmeister und verwaltete ein riesiges Waldgebiet. Er war streng, aber gerecht, besonders mit ihren drei älteren Brüdern. Zu seiner Tochter hatte er ein besonders liebevolles Verhältnis. Er nahm die Kinder mit in die Wälder und zeigte ihnen die Tiere und Pflanzen. Sie spielten unbeschwert in einer nahezu idyllischen Landschaft, im Winter fuhren sie mit Skiern zur Schule. Ihre Kindheit muss nahezu paradiesisch gewesen sein.
Die Familie war von den Auswirkungen des Krieges nahezu verschont geblieben. Der Vater wurde aufgrund seiner Anstellung nicht zur Wehrmacht eingezogen. Allerdings musste er russische Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter im Forst einsetzen. Es war ihm zuwider, er äußerte dies offen und lief Gefahr, denunziert zu werden. Gegen Ende des Krieges wurden die Brüder als Flakhelfer eingesetzt, der älteste als Soldat.
Im Sommer 1945 kamen tschechische Truppen in das Dorf. Die Mutter und die vier Halbwüchsigen und die erst einjährige kleine Schwester mussten innerhalb einer Stunde Haus und Hof Richtung Westen verlassen. Margit war 13 Jahre alt. Der Vater war kurz zuvor vor ihren Augen gefangen genommen und verschleppt worden. Er gilt seither als verschollen.
Zwei Jahre lang waren sie auf der Flucht, lebten in ärmlichsten Verhältnissen an verschiedenen Orten, und gelangten schließlich zu entfernten Verwandten ins Ruhrgebiet.
Sicher ist, dass der plötzliche Verlust des Vaters und Erlebnisse auf der Flucht in ihr ein Trauma verursachten, das aufzulösen sie nicht im Stande war und ihr gesamtes weiteres Leben bis zum Tod im Jahr 2019 prägte.
Seit den späten 1970 er Jahren hatte sie unzählige Reisen unternommen. Zumeist mit Freunden, einer entfernten Verwandten und auch mit ihrer jüngeren Schwester, nie mit ihrem Ehemann. Es waren vor allem Fernreisen, oft durch Reisebüros organisiert, die sie in fast alle Kontinente führten.
Im Nachlass seiner Mutter fand Michael von Brentano mehrere Kisten mit Fotografien, die sie unterwegs gemacht hatte. Bei der Durchsicht erinnerte er sich an viele Gespräche, die sie führten, wenn sie von einer dieser Reisen zurückkam. Dabei fiel ihm auf, dass sie sich immer schwer getan hatte zu berichten, was sie erlebt hatte. Was war beeindruckend? Wie nahm sie die Menschen wahr, die in den Ländern leben? Wie Landschaften, Städte und Kultur? Oft konnte sie sich, sogar angesichts der Bilder, die sie selbst gemacht hatte, kaum zum Erlebten äußern. Vielmehr plante sie alsbald die nächste Exkursion.
Michael von Brentano sichtete alle rund 4700 Fotografien, gemacht mit einer einfachen Schnappschusskamera. Dabei stellte er sich die Frage, ob es möglich ist, dass man aufgrund der Weise, wie die „Welt“ abgelichtet wird, erkennen kann, ob ein Mensch Traumatisches erlebt und sich in ihm unauflösbar festgesetzt hat. Selbstverständlich konnte er dies nur aus dem Blick des Sohnes versuchen, der erfahren musste, dass sie zu Empathie kaum fähig war.
Die Installation besteht aus zwei hölzernen „Tischen“ mit daran befestigten Gestängen aus Bambusrohren im Eingangsbereich und im „Raum der Heimatvertriebenen“. Sie erinnern an Konstruktionen, wie sie auf vielen Fotos zu sehen sind.
Ausgangspunkt sind 165 Bilder, die er auf intuitive Weise ausgewählt und eingescannt hat. Dazu verfasste er eine nüchterne Beschreibung dessen, was auf jedem Bild zu sehen ist. Die Texte hat er selbst gesprochen, mit einem Recorder aufgenommen, dem jeweiligen Bild zugeordnet und daraus ein Video geschnitten. Sie sind auf dem großen Monitor zu sehen. Rundherum liegen die geschlossenen Stapel aller Bilder, die er nicht ausgewählt hat.
Die Originale der anderen liegen wie hingeworfen zusammen mit den geschriebenen Texten in einem Schaukasten auf dem Tisch am Eingang. Dazu hat er Fotos, die Mitreisende von seiner Mutter machten, mit weißer Acrylfarbe bemalt. Alles, was sie umgibt, hat er unsichtbar gemacht, symbolisch dafür, wie distanziert sie dem begegnete.
Eine Fotografie steht inmitten der vielen gestapelten Bilder: Margit steht vor ihrem unrenovierten Elternhaus im Jahr 2008. Ein ähnlich aufgenommenes Bild findet sich als großer Abzug an einer der Bambusgerüste. Als Geschenk zum achtzigsten Geburtstag waren der Künstler und seine Mutter an den Heimatort gefahren. Vor dem nun renovierten Haus fotografierte er sie und stellte bei ihr einen zuvor nie gesehenen, strahlenden Gesichtsausdruck fest.
Michael von Brentano glaubt, dass die fehlende Zuneigung seiner Mutter in seinen Kinderjahren schon früh dazu führte, dass er den Wunsch entwickelte Künstler zu werden. Stellvertretend dafür stehen drei Zeichnungen, die er als Kind gemacht hat. Er hat sich eine eigene Welt „erzeichnet“. Tiere, Pflanzen, die Natur spielen dabei eine wichtige Rolle. Das zerrüttete Verhältnis des heutigen Menschen zu seinen Mitgeschöpfen ist das, was er in seinen Arbeiten erforscht. Dabei geht er immer zuerst auf Spurensuche. Er bezieht sich oft auf die Deutsche Romantik des frühen 19. Jahrhunderts und dessen Gedankengut. Exemplarisch dafür hängt quer über dem Tisch ein weißer Stoff mit der Aufschrift „feed my romantic inspiration“. Ein Satz, den er bereits für andere Kunstwerke verwendet hat. Er steht für den hinterleuchteten Vorhang seines Kinderzimmers, in dem er Muster und Figuren sah und sich einen eigenen Kosmos erschuf, auf den seine Mutter keinen Einfluss haben konnte. Unter dem Tisch ist der Künstler in einem Video zu sehen, das 1999 entstand. In die Ferne laufend verschmilzt er mit der Landschaft. Ein anderes Video zeigt eine Meeresbrandung und die transparent darüber gelegte Röntgenaufnahme eines atmenden Menschen. Landschaft und Mensch sind hier ein einziger unzertrennlicher Organismus.
Die Fotografien, die seine Mutter von der Welt machte, die sie bereiste, deutet der Künstler neu, indem er sie sich einfach aneignet. Indem er intuitiv Aufnahme für Aufnahme auswählt, vermischt er die intuitive Sicht seiner Mutter mit seiner eigenen, um sich dann zu distanzieren. Er fragt sich dabei, was seine Mutter beim Fotografieren festhalten wollte. Er sieht die Details, beschreibt sie nüchtern und seziert dadurch das Dargestellte. Rundherum stapeln sich die Bilder wie ein unsichtbares, für immer verschlossenes Archiv.
Die Installation ist Dokument und Kunstwerk. Sie steht exemplarisch für die unzähligen verlorenen Heimaten in Geschichte und Gegenwart. Jeder Mensch, der seine Heimat verlassen muss, ist gezwungen in die Heimaten anderer Menschen einzudringen.
Flüchtlinge verlieren Geborgenheit, Sicherheit und Halt, oft ihre Identität. Selbst mit rastloser Suche bleibt diese unauffindbar und der Mensch bleibt für immer ein Fliehender.
In einem Beitrag für die Radiosendung „kulturLeben“ auf Bayern2 hat die Journalistin Barbara Knopf den Künstler interviewt. Hören Sie rein:
Gefördert durch: Landkreis Bad-Tölz Wolfratshausen und Bezirk Oberbayern.
Der Künstler
1960 geboren in Augsburg
1980 – 1983 Ausbildung zum Schreiner
1984 – 1990 Studium der Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste München bei Prof. Hans Ladner
1988 Meisterschüler
1990 Diplom
1997 – 2018 Fachlehrer für Bildhauerei/ Schulen für Holz und Gestaltung / Garmisch–Partenkirchen
Er lebt und arbeitet in Seeshaupt am Starnberger See.
Weitere Informationen zum Künstler und seinem Werk:
Weitere Details finden Sie in den verlinkten Presseartikeln unter dem Tab „Details“, fotografische Eindrücke unter dem Tab „Galerie“.
Fotos: Von Margits Reisen und der Intervention im BADEHAUS. Copyright: Margit von Brentano, Jonathan Coenen und Justine Bittner.